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Was heißt: Eine Geschichte tragen | Geschichte und Geschichtsbilder der Aramäer

Die Fundatio Nisibinensis – Gesellschaft zur Förderung Aramäischer Studien veranstaltete in Kooperation mit dem Institut für Diaspora- und Genozidforschung der Ruhr-Universität Bochum (IDG) vom 23.-25. Juni 2006 ein Seminar in der Akademie Klausenhof in der Reihe „Was heißt: Eine Geschichte tragen“. Themen des Seminars waren die „Geschichte und Geschichtsbilder der Aramäer – Möglichkeiten einer Interpretation für die Gegenwart“. Knapp 30 Teilnehmer besuchten das Wochenendseminar, das von Mihran Dabag, dem Leiter des IDG und seinen Mitarbeitern Kristin Platt und Medardus Brehl geleitet wurde.


Ziel war es, sich anhand kontroverser Fragestellungen mit der Geschichte der Aramäer zu beschäftigen und zu fragen inwiefern die „Geschichte“ der Aramäer dem entspricht bzw. entsprechen kann, was die Wissenschaften der Welt heute als Geschichte verstehen. In diesem Zusammenhang ist es nicht zuletzt bedeutsam, danach zu fragen, inwieweit die gültigen Geschichtsbilder der Aramäer eine orientierende Funktion in der Gegenwart haben können oder welche Neuinterpretationen notwendig sein könnten, um eine solche gegenwarts- und zukunftsbezogene Orientierung zu gewährleisten. Wie wären solche Neuinterpretationen möglich und von wem könnten diese geleistet werden? In diesem Zusammenhang, so zeigte das Seminar, sind insbesondere das Konzept der „Geschichte“ selbst zu hinterfragen, um es mit den Vorstellungen von „Tradition“, „Erinnerung“, „Chronik“, „Theologie“ oder „Glaube“ zu konfrontieren.

Kampfplatz Geschichte

Eröffnet wurde das Seminar nach der Begrüßung der Teilnehmer mit einer Episode der Sience-Fiction Serie Star Trek: Voyager, die dafür bekannt ist, politische Probleme beispielhaft zu verarbeiten. Die ausgewählte Episode beschäftigt sich mit der Entstehung und Veränderung von Geschichtsbildern. Dabei wurden insbesondere auch die Mechanismen, Bedingungen und Prozesse der einer solchen Veränderung deutlich. Am Beispiel der Bevölkerung eines fernen Planeten wird gezeigt wie durch das plötzliche Auftreten eines neuen Himmelskörpers (tatsächlich handelt es sich um das aufgrund technischer Probleme in die Atmosphäre des Planeten eingetretene Raumschiff Voyager) das Geschichtsbild einer Gemeinschaft entsteht: Die Bevölkerung des Planeten deutet den Himmelskörper als einen neuen Gott, das Auftreten wird zum Gründungsmythos der Gemeinschaft, sie wird als Beginn ihrer Geschichte gedeutet. Im weiteren verlauf der Episode wird gezeigt, wie sich die Deutungen verändern – abhängig nicht zuletzt von der kulturell-philosophischen und technischen Entwicklung der Gemeinschaft: vom Gründungsmythos über Aufklärung und Säkularisierung bis in zum Sturz der Götter und der wissenschaftlichen Erklärung des Auftretens des Himmelskörpers – schließlich wird aus dem göttlichen Himmelskörper auch im Deutungshorizont der Gemeinschaft ein Raumschiff. So wurden anhand der Episode die Bedingungen und Strukturen drei unterschiedlicher Geschichtsbilder deutlich: des Geschichtsbild eines mythischen Zeitalters, das eines politischen Zeitalters und schließlich das eines technischen Zeitalters. Geschichtsbider und damit schließlich auch die jeweils als gültig angesehe „Geschichte“, so zeichnete sich bereits hier ab, ist das Ergebnis von Deutungsprozessen und Deutungsparadigmen, die durchaus der Veränderbarkeit unterliegen. In diesem Zusammenhang wurden dabei wichtige Begriffe, wie Geschichte, Geschichtsbilder und Heilsgeschichte definiert:

  • Geschichte im engeren Sinne meint demnach die Entwicklung des Menschen und der Menschheit. Eine weitere Unterteilung in Gebiete, wie Vor- und Frühgeschichte, die sich vor der Erfindung der Schrift abspielte, ist üblich.
  • Als Geschichtsbild wird im Allgemeinen die Summe der geschichtlichen Vorstellungen eines Menschen und einer Gruppe verstanden.
  • Im Geschichtsbild Heilsgeschichte herrscht die Vorstellung eines handelnden Gottes, der das Geschehen vorhersieht oder in das Geschehen eingreift, vor.

Die Frage, was benötigt wird, um sich einen Platz in der Geschichte behaupten zu können wurde in drei Punkte zusammengefasst:

1. machtvolle Personen,
2. eine Struktur der geschichtlichen Erzählung, die allgemein verstanden wird und
3. ein machtvoller Staatsapparat, der seine Sicht der Geschichte durchsetzen kann.

Immanent wichtig ist, sich bewusst zu sein, dass Geschichte eine ausdrückliche politische Konzeption, ein Entwurf für die Zukunft ist.

Warum Geschichte für die Moderne so wichtig ist

Intensiv erörterte Prof. Dr. Mihran Dabag die Entwicklung von den frühen Chroniken zur modernen Geschichtswissenschaft. In den frühen Geschichtserzählungen wurde primär das „Warum“, die Frage nach dem Bauplan der Welt beantwortet. In vormodernen Gesellschaften stand die Frage, „Wer“ oder „Was“ das Überleben der Gesellschaft in Zukunft schützen kann im Vordergrund.

In der modernen Geschichtswissenschaft wird die Zukunftsdimension gekappt. Die moderne Geschichtswissenschaft analysiert das „Wie“. Der Politik dagegen falle nun die Aufgabe zu, prognostisch zu arbeiten, wobei sie allerdings auf die Geschichte als orientierende Instanz angewiesen ist.

Für die Moderne ist die Geschichte daher existentiell. Sie stellt Begründungen für Abgrenzung bereit bzw. soll solche Begründungen liefern. Ihr wird eine entscheidende Definitionsmacht zugeschrieben: sie entscheidet wer dazugehört und wer nicht, wer in die Geschichte gehört und wer außerhalb der Geschichte steht. Nicht zuletzt an diesem Punkt zeigt sich die enge Verbindung des Ursprung der modernen Geschichtswissenschaften zur Entstehung der Nationalstaaten. Die »Geschichte« tritt in diesem Kontext an die Stelle Gottes als Garant von Ordnung und als Instanz für die Legitimation von Grenzen. So entwickelte sich mit der Säkularisierung der Geschichte, die nun nicht länger als göttliche gegebene sondern von Menschen gemachte „Große Geschichte“ der Nationalstaaten begriffen wurde, die Idee, dass die Kulturen im historischen Prozess auseinander hervorgehen, sich auf eine jeweils höhere Stufe entwickeln und sich ablösen. Am Ende der Entwicklung steht in diesem Geschichtsbild die westlichen Zivilisation, die somit als eine Art Ziel der Geschichte erscheint. Alle anderen Kulturen und Gemeinschaften, jede andere Geschichte erscheint somit als Zwischenstufe die letztlich in der westlichen Zivilisation zu münden bzw. sich in diese zu integrieren haben, wenn sie nicht gar außerhalb jener als gültig gesetzten „Großen Geschichte“ der Nationalstaaten verortet wird bzw. zu einer „Fußnote“ in der Universalgeschichte der Welt gemacht wird.

Gerade dieses Geschichtsbild gilt es zu hinterfragen, es gilt sich kritisch mit diesem Geschichtsverständnis auseinanderzusetzen und es nicht unreflektiert zu übernehmen, sondern selbstbewußt mit den eigenen Erzählungen und der eigenen Geschichte umzugehen, sie zu aktualisieren um ihre Gültigkeit für Gegenwart und Zukunft zu prüfen.

Weitere Themen und Abschlussdiskussion

Weitere Referenten, die über die Geschichtsschreibung bei den Aramäern berichteten, waren Amill Görgis, der durch seine Übersetzung zahlreicher Werke aus dem Syrischen ins Deutsche bekannt ist, und Dr. Dorothea Weltecke vom Lehrstuhl für Geschichte des Mittelalters an der Universität Göttingen. Sie promovierte mit einer Arbeit zum Thema „Michael der Große (1126-1199): Die Beschreibung der Zeiten“ und erhielt dafür den Ernst-Reuter-Preis der Freien Universität Berlin, der für herausragende und zukunftsweisende Promotionen verliehen wird.

Amill Gorgis referierte über sein neuestes Übersetzungsprojekt: „Die Geschichte der syrischen Literatur nach Seiner Heiligkeit Mor Aphrem Barsaum (1887-1957). Ziel Seiner Heiligkeit war es, mit dem Buch die Geschichte und Literatur der christlichen Syrer in der arabischen Welt bekannt zu machen.

Dr. Dorothea Weltecke ging in ihrem Vortrag auf das „historische Denken“ in den syrischen Chroniken ein. Sie meinte, darin eine Angst vor der Zukunft zu lesen. Was in der Vergangenheit war, wurde in der Gegenwart auf die Zukunft projiziert. Im Vergleich zu Früher, so äußerte sie sich, waren die orientalischen Christen wesentlich origineller im Denken. So sei es ein Charakteristikum der syrischen Chroniken, daß diese gerade nicht von einer Einheit von Zeit und Geschichte ausgingen, sondern von einer Sychronität verschiedener Zeitströme und Geschichtsverläufe. Weiter sagte sie, dass wie zur Zeit des Patriarchen Michoel Rabo auch heute aktuelle Auseinadersetzungen mit historischen Argumenten geführt werden.

Der Jurist und 2. Vorsitzende der Fundatio Nisibinensis David Gelen zeigte wie in den Satzungen der heute aktiven Vereine unserer Gemeinschaft für die Selbstdefinition auf eine Geschichte der Aramäer Bezug genommen wird. Die Reaktionen des Publikums reichten von Gelächter bis zu Bestürzung über eine (vermeintlich) unreflektierte Übernahme von bisweilen chauvinistisch anmutenden, an Abstammungs- und Rassekonzeptionen orientierten Differenzkategorien und zweifelhafter Ursprungslegenden, die in Satzungen artikuliert wurden. Dabei stellte sich die Frage, ob die Aramäer heute tatsächlich überhaupt solcher fragwürdigen Differenzkategorien und Ursprungslegenden – die längst überwunden sein sollten – bedürfen, um die eigene Identität als Gemeinschaft zu definieren und zu bewahren.

Als heutige Grundfragen oder -probleme, die sich an diesem Seminarwochenende ergaben, wurden festgehalten:

  • das Verhältnis der biblischen und außerbiblischen Geschichte,
  • die nicht-geschriebene, mündliche Geschichte,
  • die Konstruktion einer ethnischen Geschichte aus einer universalen, christlichen Geschichtsidee und
  • welche Bezugspunkte lassen sich für eine Geschichte heute definieren – die für eine geschichtliche Entwicklung charakteristisch sind (und zwar sowohl für Kontinuitäten als auch für Brüche).

Diese Grundfragen und Grundprobleme sind eine intellektuelle Herausforderung und bedürfen zu ihrer Beantwortung einer fundierten und wissenschaftlichen Beschäftigung und Analyse. Nicht zuletzt macht dies deutlich, wie wichtig die Schaffung wissenschaftlicher Einrichtungen und die Wissenschaftsförderung in der Diaspora sind.

Um diese Diskussionen zu vertiefen, plant die Fundatio Nisibinensis u.a. gemeinsam mit dem IDG weitere Veranstaltung. Das nächste Seminar wird im kommenden Jahr in der Katholischen Akademie „Die Wolfsburg“ in Mülheim/Ruhr stattfinden.

Autor: Mihayel Ahrun, Fundatio Nisibinensis [http://fundatio-nisibinensis.org/text-14.phtml]