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Unbeschreibliches Elend
Das Wilhelminische Kaiserreich duldete 1915/16 den türkischen Völkermord an den Armeniern

Wolfgang Gust (Herausgeber): Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amtes. Zu Klampen Verlag, Springe 2005. 675 Seiten.

Die deutsche Regierung wußte sehr genau Bescheid. Sie wußte von vorbeitreibenden Toten auf dem Euphrat, von "grauenvollen Leichenparaden", Verhören und Folter, Arbeitsbataillonen, Konzentrationslagern und Vergewaltigungen. Sie wußte von Frauen, die während der Deportationszüge Kinder bekamen und gezwungen wurden, sie unter Büschen abzulegen und weiterzulaufen; von Menschen, die auf den Märschen in die Syrische Wüste verhungerten; von den drei Zügen, die jede Woche mehr als 1500 Menschen aus Aleppo im Südosten des Osmanischen Reiches abtransportierten. "Es ist", schrieb der Konsul in Aleppo, Walter Rößler, im September 1915 an Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg, "ein Bild unbeschreiblichen Elends".

Diplomaten wie Rößler zeichneten dieses Bild für die Regierung in Berlin nach. Das Auswärtige Amt und der Reichskanzler erhielten in den ersten Jahren des Ersten Weltkriegs eine große Zahl von Berichten über den Völkermord an den Armeniern aus dem Osmanischen Reich. Mit einer reichen Auswahl dieser vom Auswärtigen Amt gesammelten Dokumente gibt der Band Zeugnis über das Leid eines Volkes, das vor dem Ersten Weltkrieg rund zwei Millionen Menschen umfaßte und 1915/16 im ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts um die Hälfte schrumpfte.

Die Lektüre veranschaulicht zugleich die Mitverantwortung des Kaiserreichs, des wichtigsten Alliierten des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg. Die Dokumente waren nicht für den Außengebrauch vorgesehen. Sie sind daher weitgehend unmittelbar und unverstellt. Oft sind die Texte so anschaulich, daß sie den Leser schaudern lassen. Das Bild, das sich aus den Texten zusammensetzt, ist jedoch überwiegend einseitig. Dokumentiert wird im wesentlichen, was Beobachter im Osmanischen Reich sahen, erlebten, empfanden und dachten. Reaktionen der Reichsregierung auf diese Berichte fehlen weitgehend.

Schon damals protestierten Deutsche gegen das Vorgehen der jungtürkischen Regierung. "Solche Maßregeln", schrieb der Armenier-Freund Johannes Lepsius am 22. Juni 1915 an das Auswärtige Amt, "die nur in den Deportationen der alten Assyrer ihresgleichen haben, sind durch militärische Zwecke nicht zu rechtfertigen, sondern laufen auf verschleierte Christenmassacres hinaus." Der Theologe Lepsius, Vorsitzender der Deutsch-Armenischen Gesellschaft, brachte gleich nach Kriegsende ein Werk mit Dokumenten des Auswärtigen Amts zu Armenien heraus. Der Band sollte die deutsche Position während der Pariser Friedensverhandlungen verbessern. Jene Aspekte, die eine deutsche Mitschuld nahelegen, tilgte Lepsius daher weitgehend. Diese in der frühen Publikation fehlenden Dokumente wurden jetzt erstmals veröffentlicht.

Die deutsche Regierung war 1915/16 entschlossen, die Massaker des Verbündeten an den Armeniern zu dulden, und versuchte, Kritiker wie Lepsius möglichst kleinzuhalten. Der Botschafter in Konstantinopel, Hans Freiherr von Wangenheim, berichtete am 2. Juli 1915: "Die mitgeteilten Äußerungen des Dr. Lepsius zur armenischen Frage lassen befürchten, daß seine Reise hierher in diesem Augenblick uns schwere Ungelegenheiten namentlich auch durch Einblick in die schlimme Lage der Armenier bereiten und unsere andersweitigen wichtigeren Interessen schädigen kann." Lepsius durfte dann zwar fahren, mußte aber versprechen, sich sofort nach der Ankunft auf der Botschaft zu melden und deren Weisungen strikt zu befolgen.

Die Frage, welche Verantwortung das Deutsche Reich für die Verschleppung und Ermordung der Armenier trage und wie diese Verantwortung von außen wahrgenommen werde, blitzt im Schriftverkehr zwischen den Konsulaten und Botschaften im Osmanischen Reich, dem Kanzleramt und dem Auswärtigen Amt immer wieder auf. Mitunter muß mit Blick auf die Dokumente nicht nur von einer Mitschuld des Deutschen Reiches, sondern sogar von Mittäterschaft gesprochen werden. Ein Beispiel dafür ist eine Unterschrift des Oberstleutnants Böttrich, Chef des Verkehrswesens (Eisenbahn-Abteilung) im türkischen Großen Hauptquartier, vom Oktober 1915. Böttrich setzte sie eigenhändig unter einen Befehl zur Deportation armenischer Eisenbahnarbeiter. Der Stellvertretende Direktor der Bagdadbahn, Franz J. Günther, schrieb über dieses Schriftstück: "Unsere Gegner werden einmal viel Geld bezahlen, um dieses Schriftstück zu besitzen." Mit jener Unterschrift eines Mitglieds der Militärmission - so vermutete Günther - könnten die anderen Mächte später einmal beweisen, "daß die Deutschen nicht allein nichts getan haben, um die Armenierverfolgung zu verhüten, sondern daß gewisse Befehle zu diesem Ziel sogar von ihnen ausgegangen sind".

Nicht alle Diplomaten beobachteten eine Stimmung im Osmanischen Reich, die den Deutschen aktive Mittäterschaft am Völkermord zuschrieb. Oft wurde die Rolle auch als eine weitgehend passive gesehen, mit der sich das Reich gleichwohl ebenfalls schuldig machte. Der Vizekonsul in Mossul, Walter Holstein, berichtete der Botschaft in Konstantinopel im August 1915: "Hier sind die Äußerungen, wir seien Urheber der Christengreuel, noch nicht zu Ohren gekommen; dagegen ist unter den verschiedenen hiesigen anständigen Bevölkerungselementen zweifellos die Ansicht vertreten, wir täten nichts, damit die Schuldigen bestraft werden und damit die Greueltaten endlich aufhören."

Diejenigen, die sich für ein Einschreiten Deutschlands zugunsten des armenischen Volkes aussprachen, argumentierten nicht nur mit dem Leid der Armenier. Sie warnten auch davor, daß der Ruf des Deutschen Reiches in Gefahr sei. Konsul Rößler empfahl Bethmann Hollweg am 27. Juli 1915, türkische Erklärungen zur "Armenierfrage" nicht weiter in der deutschen Presse zu veröffentlichen, da die Gefahr bestehe, "daß wir durch unseren Verbündeten kompromittiert werden". Die Behandlung des armenischen Volkes werde von weiten Kreisen der Bevölkerung, auch der muslimischen, auf deutsche Einwirkung bei der türkischen Regierung zurückgeführt: "Es heißt, Deutschland sei Anlaß zu dem Entschluß der türkischen Regierung, das armenische Volk bis zur völligen Bedeutungslosigkeit zu zerschmettern."

Die türkische Regierung werde, so Rößler, vermutlich alles tun, um dieser Ansicht Vorschub zu leisten: "Sie wird froh sein, das Odium ihrer Maßregeln auf uns abwälzen zu können. Deutschlands Name aber wird dadurch in den Schmutz gezogen." Seinem Schreiben fügte Rößler einen Bericht eines Bediensteten der Bagdadbahn bei. Dieser berichtet so anschaulich von Vergewaltigungen und von ans Ufer geschwemmten Toten, die von Hunden und Geiern gefressen wurden, daß Rößler die Einzelheiten in seinem eigenen Schreiben nicht wiederholen wollte.

Der Geschäftsträger in Konstantinopel, Konstantin Freiherr von Neurath (der spätere Reichsaußenminister in den Jahren 1932 bis 1938), erwog in einem Brief an Bethmann Hollweg vom 26. Oktober 1915 das mögliche Verhalten des Deutschen Reichs nach Kriegsende. Zwar stelle der Ausfall der Armenier als Vermittler des europäischen Handels einen Verlust dar. "Das Vertrauen der Türkei ist aber für uns zu wichtig, um es durch den Versuch, den Armeniern ihre alte Rolle wiederzuverschaffen, zu gefährden." Um Argwohn der Türken zu vermeiden, dürfe die Hilfstätigkeit proarmenischer Vereine im Krieg nicht über das hinausgehen, was vor Kriegsbeginn 1914 geschehen sei. Auch das zeigt, daß sich die deutsche Haltung gegenüber einem hilflosen Volk pragmatischen Erwägungen fügte.

FLORENTINE FRITZEN

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.06.2005, Nr. 140 / Seite 7